15. Dezember 1999

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Urteilsverlängerung und Schießerei im Drapchi Gefängnis von Lhasa

Bestätigung der Niederschlagung der Proteste vom Mai 1998

Neue Informationen gingen TIN zu über die Schußverletzung eines Mönches und die Urteilsverlängerung für sechs politische Gefangene auf die Proteste vom Mai 1998 in dem Drapchi Gefängnis von Lhasa hin. Ein Augenzeuge beschreibt die unmenschliche Vergeltung, die den politischen und den kriminellen Gefangenen wegen ihres friedlichen Protestes angetan wurde, der zum Tod von mindestens 10 Gefangenen führte. Wegen der strengen Maßnahmen der Regierung der TAR zur Verhinderung, daß Nachrichten über Proteste und deren Auswirkungen an die Außenwelt dringen, erreichte dieser Bericht TIN erst 19 Monate nach dem Vorfall. Der chinesische Staat betrachtet nämlich den freien Informationsfluß über Menschenrechtsmißbrauch als "Gefährdung der Staatsicherheit".

Der Bericht eines Tibeters, der inzwischen geflohen ist, beschreibt, wie nach der ersten Demonstration am 1. Mai 1998, als politische und kriminelle Gefangene zu einem Flaggenappell im Gefängnishof versammelt waren, dann mit Gewehren und Schlagstöcken bewaffnete PAP Soldaten ins Gefängnis eindrangen. Ein zweiter Protest am 4. Mai 1998, dem Tag des Besuches einer EU-Erkundungsdelegation in Sachen Menschenrechte, wurde rasch von den Gefängniswachen und dem jetzt in dem Gefängniskomplex stationierten PAP Personal unterdrückt. Alle Gefangene, die mitgemacht hatten, ebenso wie viele Unbeteiligte wurden brutal geschlagen und in ihre Zellen eingeschlossen. Der Bericht bestätigt den Tod von zwei Mönchen aus Kloster Ganden, dem 28-jährigen Lobsang Wangchuk und dem 26-jährigen Khedrup, wie von TIN schon letztes Jahr berichtet wurde. Er bestätigt auch den Tod des 22-jährigen Lobsang Choephel aus dem Kloster Khangmar. Dieser Mönch, der 1995 verhaftet wurde und eine 5-jährige Haftstrafe hatte, beging eine Woche nach dem Protest vom 4. Mai Selbstmord. Ein Mönch aus dem Kloster Lo in Kreis Taktse, der 25-jährige Thubten Kalsang, ist nur noch ein "hinfälliges Wrack", nachdem er besonders schwer mißhandelt worden war.

Ngawang Sungrab, Anfang dreißig, ein Mönch aus Drepung, wurde am 4. Mai 1998 von einem Gefängniswärter auf den zweiten Protest in dem "Gefängnis Nr. 1 der Autonomen Region Tibet" (offizieller Name) hin durch einen Schuß schwer verletzt. Am 4. Mai, als Gefangene im Hof für einen zweiten Flaggenappell versammelt wurden, begann Lobsang Geleg, ein Mönch aus dem Kloster Khangmar, Parolen wie "Tibet ist unabhängig" und "China hat kein Recht, seine Flagge auf unserem Boden zu hissen" zu rufen. Andere Gefangene schlossen sich den Rufen an. Sie wurden von dem PAP Personal, das nach dem Protest vom 1. Mai auf dem Gelände stationiert war, geschlagen und in ihre Zellen zurückgetrieben. Wenige Minuten nach Mittag merkten die Langzeitgefangenen, die von der Zeremonie ausgeschlossen und auf ihre Blöcke beschränkt waren, was geschehen war. Sie eilten zu einem der Gefängnistore, das sie zu durchbrechen versuchten, als ein Gefängniswärter auf sie feuerte. Ngawang Sungrab, der eine Strafe von 10 Jahren abzubüßen hatte, wurde in den Bauch getroffen. Die Gefangenen wichen daraufhin von dem Tor zurück, und einige begannen, Ngawang Sungrabs Wunden mit ihren Halstüchern zu verbinden; einer zerriss sogar eine Steppdecke, um mit den Stoffstreifen die Schußwunde abzudecken. Ngawang Sungrab wurde in das Militärhospital gebracht. Die Haftzeit des Mönches, der ihm geholfen hatte, wäre zwei Monate nach der Demonstration zu Ende gegangen, ob er tatsächlich entlassen wurde, ist nicht bekannt. Berichte, daß Lobsang Geleg, der den Protest vom 4. Mai begann, auf die Mißhandlungen hin starb, konnten nicht bestätigt werden. Er sollte eigentlich im April dieses Jahres entlassen werden.

Zwei Mönche aus Phenpo, Ngawang Dorje und Dawa, sollen dem jüngsten Bericht zufolge bald nach der Verwundung Ngawang Sungrabs aus Drapchi entfernt worden sein. Wo sie sich nun befinden, ist unbekannt.

Ein Kommando von etwa 12 bewaffneten Polizisten drang am Abend des 4. Mai in die Zellenblöcke ein und nahm systematisch und unter Mißhandlung Vernehmungen der Gefangenen vor, wobei verschiedene Folterwaffen wie Elektroschlagstöcke und Gummiknüppel eingesetzt wurden. Der Mönch Thubten Kalsang, dessen Entlassung nach einem 6-jährigen Freiheitsentzug eine Woche nach den Protesten bevorstand, wurde besonders grausam geschlagen. "An jenem Abend wurde er von einem Trupp von 12 Soldaten mißhandelt. Sie stampften auf seinem zerschundenen Körper herum und schlugen ihn fast eine halbe Stunde lang immer wieder mit ihren Knüppeln", heißt es in dem Bericht. Thubten Kalsang wurde noch einmal am folgenden Morgen vernommen, diesmal in der Wachstation des Gefängnisses, wo seine Vernehmung mit häufigen Schlägen durchsetzt war, die fast zwei Stunden dauerten. "Sechs Gefängniswärter verabreichten die Schläge. Einer von ihnen befahl ihm niederzuknien, ein anderer hielt ihm am Kopf fest. Vier Wachen begannen ihm mit Elektrostöcken und Eisenstangen zuzusetzen, bis er bewußtlos hinfiel. Durch die schrecklichen Schläge veranlaßt, machte er unwillkürlich in die Hose. Als er in seine Zelle zurückzukehren versuchte, mußte er sich an der Wand festhalten und fiel immer wieder hin. Die Wachen erlaubten den anderen Gefangenen nicht, ihm zu helfen, weshalb er sich seinen Weg in die Zelle alleine zurückkämpfen mußte". Thubten Kalsang wurde am 15. Mai 1998 entlassen und ist nun zu Hause in Tagtse. Sein Gesundheitszustand hat sich nicht gebessert und es heißt, daß er nun ein "sieches Wrack" ist und nur noch auf den Tod wartet.

Unter den Gefangenen, die zu der zweiten Flaggen-Zeremonie am 4. Mai gerufen wurden, scheinen auch politische Gefangene von den neuen Gefängniseinheiten in Drapchi gewesen zu sein. Diese wurden Anfang 1998 nach der Aufteilung der zwei Einheiten für weibliche und männliche politische Gefangene (Einheiten 3 und 5) in vier Einheiten (Einheit 3 wurde in Einheiten 6 und 7 gespalten und Einheit 5 in 8 und 9) geschaffen. Die neueste Information deutet darauf hin, daß die Aufspaltung dieser Einheiten die politischen "Langzeitgefangenen" von den anderen politischen Gefangenen, die in den neuen Zellenblock verfrachtet wurden, absondern sollte. Die Proteste vom Mai 1998 zeigen jedoch, daß es der Regierung nicht gelang, die politischen Gefangenen zu zügeln, indem sie sie verwaltungsmäßig voneinander trennten.

Isolierung der Gefangenen und Verlängerung der Haftstrafen

Die Demonstration vom 1. Mai letzten Jahres begann, als politische und kriminelle Gefangene anlässlich der Feier des sozialistischen Arbeitstages in dem Gefängnishof zu einer Flaggen-Zeremonie versammelt wurden. Annähernd 900 Gefangene mußten sich auf dem Hauptparadeplatz für die Zeremonie in Reih und Glied stellen und "Sozialismus ist gut", ein kommunistisches Parteilied, singen. Als die rote Flagge hochgezogen wurde, begannen zwei Strafgefangene, Karma Dawa und Karma Sonam, gedruckte Parolen zu verstreuen, die sie in ihrer Kleidung versteckt hatten. Karma Dawa wurde nach dem Protest hingerichtet. Dann begannen die bei der Zeremonie anwesenden politischen Gefangenen Unabhängigkeitsparolen zu rufen. Es scheint, daß die Gefängnisleitung nur ein normales Kontingent an Wachpersonal für die Zeremonie zur Verfügung hatte. PAP Soldaten wurden daher von außen in das Gefängnis gerufen, welche die Gefangenen zu schlagen und in ihre Zellen zurückzutreiben begannen.

Als Antwort auf diese Proteste wurden die Gefangenen über ein Jahr, von Mai 1998 bis Juli 1999, in ihre Zellen gesperrt, wobei ihnen Bücher, Stifte und Papier weggenommen wurde. Man ließ ihnen nur einen Satz Bettzeug und einen Satz Kleider. "Vierzehn Monate lang konnten die Gefangenen ihre Kleidung nicht wechseln, sie bekamen nicht einmal das Notwendigste, um sich morgens waschen zu können". Auch andere Berichte bestätigen, daß die Häftlinge isoliert wurden und nach den Protesten vom Mai keine Besuche empfangen durften. Es gibt auch unbestätigte Berichte, daß zumindest zwei tibetische Gefangene von Drapchi, der 26-jährige Ganden-Mönch Lobsang Lungtog, der 1992 verhaftet wurde und 7-8 Jahre abzusitzen hat, und der Laie Phuntsog Wangchuk, ein aus Lhoka stammender Student mit einer Strafe von 5 Jahren, in das offiziell als das "Gefängnis Nr. 2 der TAR" bekannte Powo Tramo in Kreis Pome, Präfektur Kongpo, verlegt wurden.

Sechs weiteren in Drapchi inhaftierten Mönchen wurden Haftverlängerungen auferlegt. Der 23-jährige Hab Sang, ein Mönch aus Kloster Gonsar, der 1995 festgehalten und zu 5 Jahren verurteilt wurde, erhielt eine Verlängerung um 4 Jahre; Tenzin Jigme und Ngawang Kalsang, zwei 22-jährige Mönche aus Kloster Taglung, wurden die Strafen zusätzlich zu ihrem ursprüglichen Urteil von 5 Jahren um 3 Jahre verlängert. Der 37-jährige Phuntsog Rigchog, der 23-jährige Ngawang Namgyal, beide aus dem Nyethang Tashigang Kloster, die im Mai 1994 zu 6 Jahren verurteilt waren, wurden nun mit 4 weiteren Jahren belegt.

Dem sechsten Mönch, dem 24-jährigen Ngawang Oebar aus dem Kloster Sang Ngag, der 1994 verhaftet und zu 4 Jahren verurteilt war, wurde seine Strafe verdoppelt. Von den 16 Personen, die entweder starben, schwer verletzt oder mit Haftverlängerungen belegt wurden, stand bei mindestens 7 die Entlassung innerhalb eines Jahres bevor.

Eine ganze Reihe von früheren Dissens-Bekundungen in den Gefängnissen von Lhasa wurden ebenfalls durch Verlängerung der Hafturteile geahndet. Im Juni 1993 erfuhren 14 Nonnen Verlängerungen von 3-7 Jahren, nachdem sie ein Tonband mit Liedern aus dem Gefängnis schmuggelten. Mindestens 6 von den 11 oder mehr Gefangenen, die am 20. Mai 1991 im Sangyib Gefängnis protestiert hatten wegen des bevorstehenden 40. Jahrestages des 17-Punkte-Abkommens, das am 23. Mai 1951 von chinesischen und tibetischen Regierungsvertretern unterschrieben wurde, wurde die Strafe um 3 bis 6 Jahre verlängert. Ngawang Sangdrol, die gegenwärtig eine Strafe von 21 Jahren abbüßt, erfuhr im Oktober 1998 die dritte Verlängerung, was ebenfalls mit den Demonstrationen vom Mai 1998 in Drapchi zusammenhängen könnte.

Todesfälle nach den Protesten in Drapchi

Der TIN zugegangene Bericht bestätigt den Tod des 28-jährigen Ganden-Mönches Ngawang Tenkyong (Laienname Lobsang Wangchuk), des 26-jährigen Ganden-Mönches Khedrub, der im Juli 1997 verhaftet wurde und zu 5 Jahren Haft verurteilt worden war, sowie des 22-jährigen Lobsang Choephel aus dem Kloster Khangmar, der im Februar 1995 verhaftet wurde und am 12. Mai 1998 in seiner Zelle sich das Leben nahm. Lobsang Wangchuk wurde am 22. Mai 1996 verhaftet und zu 12 Jahren verurteilt.

Ebenfalls fanden 6 junge Nonnen nach den Protesten vom Mai den Tod. Die Namen von 5 der Nonnen wurden von verschiedenen Berichten als Khedron Yonten, Tashi Lhamo und Dekyi Yangzom von Kreis Nyemo, sowie Lobsang Wangmo und Choekyi Wangmo von Lhundrup Phenpo bestätigt. Bei der sechsten Nonne wird angenommen, daß es sich um Ngawang Choekyi handelt. Keine offizielle Erklärung wurde für den Tod dieser Nonnen gegeben, die am 7. Juni mit aufgeblähten Körpern und zerschlagenen Gesichtern in ihren Zellen gefunden wurden. Die Gefängnisbehörde behauptete, sie hätten Selbstmord begangen.

Die britische Regierung, die zur Zeit des Erkundungsbesuches in Drapchi die EU Ratspräsidentschaft innehatte, sagte, daß die chinesische Regierung trotz des damaligen bilateralen Dialogs über Menschenrechte zwischen China und Großbritannien nicht zugab, daß es zu Todesfällen in Drapchi gekommen war. Ein Sprecher des Außenministeriums sagte: "Wir forderten Angaben über die bei den Unruhen getöteten Gefangenen und ob eine Untersuchung stattgefunden hatte. Die Chinesen gaben bisher keine vernünftige Antwort. Wir werden fortfahren, unsere Bedenken über die Weise, wie mit diesem Vorfall umgegangen wurde, vorzubringen". Im August 1998 gaben Kader in der Justizbehörde in Lhasa einer Besucherdelegation der Europäischen Union gegenüber zu, daß Gefangene bei einer Flaggenzeremonie am 1. Mai 1998 Parolen wie "Free Tibet" und "Lange lebe der Dalai Lama" gerufen hätten. Die Gefängniswachen seien so verängstigt gewesen, daß sie Schüsse in die Luft abgaben, um damit Polizisten von außerhalb aufmerksam zu machen. Das war die einzige wesentliche Antwort, welche die Chinesen bisher westlichen Regierungen gaben, die drei Monate nach den Vorfällen die Sache bei der chinesischen Regierung zur Sprache brachten.

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